Cover
Titel
Im Steigerhubel. Zu einem vergessenen Teil der stadtbernischen Spital- und Psychiatriegeschichte. 1864 bis 1936


Autor(en)
Käsermann, Marie-Louise
Erschienen
Bern 2012: EditionSolo
Anzahl Seiten
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Michèle Hofmann, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Bern

Im vorliegenden Buch wendet sich Marie-Louise Käsermann, wie es im Untertitel heisst, «einem vergessenen Teil der stadtbernischen Spital- und Psychiatriegeschichte» zu: dem Weyermannshausgut in der Zeit seiner Nutzung als Gemeindelazarett und städtische «Irrenstation» (1864 – 1936). Der Text gliedert sich in zwei Hauptteile. Im ersten Teil wird dargestellt, wie sich die Nutzung der Institution im Laufe der Jahre veränderte. Im Weyermannshausgut, nach seinen letzten privaten Besitzern, der Familie von Steiger, «Steigerhubel» genannt, wurden ab 1864 an Blattern, Typhus oder Cholera Erkrankte von der restlichen Bevölkerung isoliert und ärztlich betreut. Nebst diesen «akut Infizierten» wurden seit den 1880er-Jahren auch andere Kranke sowie «Geistesgestörte und Delirante» aufgenommen (S. 15). Letztere verblieben nach der Eröffnung des Gemeindespitals in der Tiefenau (1913) als Einzige im Steigerhubel. Dieser hiess ab 1917 «Irrenanstalt Holligen» und wurde 1936 geschlossen. Der zweite Teil des Buches ist der Frage gewidmet, «wie das Leben für die Insassen dieses städtischen Irrenhauses ausgesehen haben könnte» (S. 7). Hier werden u.a. die Krankheitsformen und Behandlungen, das Betreuungspersonal, die Infrastruktur und der Tagesablauf im Steigerhubel beschrieben.

Das Buch reiht sich ein in die Forschungstradition einer Psychiatriegeschichte, die von den fachhistorischen Ansätzen der Medizingeschichte geprägt ist: Geforscht wird aus einer internalistischen Perspektive, was zur Folge hat, dass die Psychiatriegeschichte (weitgehend) losgelöst von gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen untersucht wird. Im Vordergrund stehen institutionengeschichtlich orientierte Monografien, die sich typischerweise auf die Geschichte einer einzelnen psychiatrischen Anstalt konzentrieren. 1 Dieser Tradition verpflichtet, betrachtet die Autorin die Entwicklung des Steigerhubels grösstenteils losgelöst von kontextuellen Faktoren und lässt die Erkenntnisse der neueren Schweizer Psychiatriegeschichte ausser Acht, die sich im Gegensatz zur eben beschriebenen institutionengeschichtlichen Forschung «als Teil einer allgemeinen Gesellschaftsgeschichte versteht und sozial- und kulturhistorische Ansätze verfolgt».2

In der Errichtung des Tiefenau-Spitals, das nach modernsten Standards v.a. für die
Infektionskranken gebaut wurde, sieht Käsermann eine Diskriminierung der «Geisteskranken». Letztere mussten im Steigerhubel verbleiben, wo die hygienischen Zustände und die Infrastruktur unzulänglich waren, was bedeutete, dass sie nicht in den Genuss einer modernen medizinischen Versorgung kamen. Diese Entwicklung liesse sich unter Berücksichtigung der medizinischen und gesellschaftlichen Zeitumstände auch anders interpretieren. Die Stadt Bern räumte beim Bau des neuen Gemeindespitals der Seuchenprävention Priorität ein. Dieses Vorgehen ist im Kontext der Hygienebewegung zu sehen, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts formiert hatte. Mit Hygiene und Sauberkeit wollte sie die Probleme des öffentlichen und privaten Gesundheitswesens lösen und Epidemien bekämpfen. Entsprechend bedeutete Gesundheitspolitik an der Wende zum 20. Jahrhundert in erster Linie Seuchenpolitik. Da erstaunt es wenig, dass die Stadt dem Bau einer den modernsten hygienischen Standards entsprechenden Isolierstation für Infektionskranke Vorrang einräumte. Zumal das «Irrenwesen » seit 1832 in die Zuständigkeit des Kantons, nicht der einzelnen Gemeinden gehörte. Aus der Retrospektive kann die Angst vor einer Choleraepidemie in den Jahren nach 1900 zwar als «kontrafaktisch» (S. 38) bezeichnet werden, wie Käsermann dies tut – für die Zeitgenossen war diese Angst jedoch real und wurde kaum bewusst zum Zweck der Diskriminierung von Behinderten eingesetzt.

Die wichtige Frage, warum im Steigerhubel neben den akut an Infektionen Leidenden, für die das Gemeindelazarett als Absonderungsstation eigentlich gedacht war, im Laufe der Zeit vermehrt auch «Geisteskranke» aufgenommen und versorgt werden, beantwortet Käsermann insbesondere mit dem Hinweis auf «tiefgreifende Änderungen» in Bern im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert, «die einen Anstieg der Zahl an Auffälligen begünstigen » (S. 25). Die neuere Psychiatriegeschichte hielte weitere Erklärungen parat. Geisteskrankheiten wurden im 19. Jahrhundert neu als soziales, politisches und medizinisches Phänomen wahrgenommen. Behinderungen wurden als Gegenstand fürsorgerischer, medizinischer oder pädagogischer Bemühungen überhaupt erst entdeckt. Psychiatrisch-statistische Erhebungen, die ab 1850 durchgeführt wurden, machten die geistig behinderten Menschen als Teil der Bevölkerung sichtbar und schärften das Problembewusstsein. Diese Bestandesaufnahme war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Institutionalisierung von Fürsorgeanstalten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich in der Schweiz nach dem Vorbild europäischer Länder ein öffentliches «Irrenwesen».3

Nichtsdestotrotz ist die von Marie-Louise Käsermann sorgfältig nachgezeichnete Geschichte des Steigerhubels insgesamt sehr anschaulich geschrieben und durchaus lesenswert.

1 Siehe Fussinger, Catherine et al.: Ausdifferenzierung der Psychiatrie in der Schweiz. Stand und Perspektive der psychiatriehistorischen Forschung. In: Traverse 2003, 1, 11 – 20, hier S. 13f..
2 Ebd., S. 14.
3 Vgl. Wolfisberg, Carlo: Heilpädagogik und Eugenik. Zur Geschichte der Heilpädagogik in der deutschsprachigen Schweiz (1800 – 1950). Zürich: Chronos 2002; Ritter, Hans Jakob: Von den Irrenstatistiken zur «erblichen Belastung» der Bevölkerung. Die Entwicklung der schweizerischen Irrenstatistiken zwischen 1850 und 1914. In: Traverse 2003, 1, 59 – 70; als Überblick Barras, Vincent: Psychiatrie. In: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 10. Basel: Schwabe 2010, 27f.

Zitierweise:
Michèle Hofmann: Rezension zu: Käsermann, Marie-Louise: Im Steigerhubel. Zu einem vergessenen Teil der stadtbernischen Spital- und Psychiatriegeschichte. 1864 bis 1936. Bern: EditionSolo 2012. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 75 Nr. 4, 2013, S. 72-74.

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Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 75 Nr. 4, 2013, S. 72-74.

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